Ihr nehmt mir mein Suchtmittel - was bekomme ich dafür?

Freundeskreisseminar vom 2. – 4.11.2012 in Bad Herrenalb

Das diesjährige Herbstseminar des Landesverbandes begann am Freitag nach dem Abendessen um 19:30 mit der Begrüßung der 58 Teilnehmer durch Roland Kögel, der erst im Frühjahr neu (und kommissarisch) für das Amt des Beauftragten für Weiterbildung gewählt worden war. Zum Einstieg ins Thema verlaß er eine kleine Geschichte aus der griechischen Mythologie, von Orpheus, der durch seinen schönen Gesang den Totengott dazu bewegen konnte, ihm seine Frau zurückzugeben, von Odysseus, der sich Fesseln anlegen musste, um der Verführung der Sirenen zu wiederstehen und wieder von Orpheus, der es besser machte als Odysseus und den Sirenen seinen eigenen, schöneren Gesang entgegensetzte. 

Nach dieser Einführung konnte in der anschließenden Vorstellungsrunde jeder auch seine Erwartungen an das Seminar äußern und diese wurden dann am Flipchart schriftlich festgehalten.

Den Einstieg am Samstag besorgte Heiko Küfen mit einem Text von Georg Betts mit dem Titel „Mutig sind die, die den Weg gemeinsam gehen.“ Danach begann, nach Begrüßung und Vorstellung, Herr Rüdiger Dunst, Leiter der Suchtberatungsstellen vom Blauen Kreuz Heidelberg und dem Diakonischen Werk Mannheim, sein Referat zum Thema „Ihr nehmt mir mein Suchtmittel - was bekomme ich dafür?“, das hier natürlich nur auszugsweise wiedergegeben werden kann. 

Zu Beginn des Referates wurde bereits viel über Selbsthilfe, Gruppenarbeit reflektiert, wie z.B. 

  • Was ist „Selbsthilfe“?
  • Merkmale der Gruppe
  • Vor- und Nachteile der Gruppe
  • Vor- und Nachteile des Suchtmittels

Zur Defination von Selbsthilfe möchte ich hier stellvertretend nur einige wenige Punkte hervorheben. 

  • Selbsthilfe baut auf die vorhandenen Ressourcen der einzelnen TeilnehmerInnen.
  • Selbsthilfe baut darauf auf, dass der  Einzelne ein Bedürfnis verspürt und motiviert ist, sein  Problem zu bearbeiten. Der Betreffende muss eine aktive Entscheidung dafür getroffen haben.
  • Die Arbeit baut auf Offenheit der Teilnehmer. Die Grenzen der Offenheit bestimmen die Teilnehmer selbst.
  • Die Gruppe ist so strukturiert, dass die Entwicklung des  Einzelnen "von innen” geschieht, nicht durch Einfluss von außen in Form von Beratung und Hilfeleistungen durch andere.

Die Ziele der Selbsthilfegruppe sind:

  • Zufriedene Abstinenz
  • Lebendigkeit
  • Gesundheit
  • Förderung der Persönlichkeit
  • „Nicht einsam – gemeinsam“

Die so häufig beschworene „Zufriedene Abstinenz“ wird von dem Suchterkrankten in der Regel nur über Stufen erreicht:

  1. Nicht wahrhaben wollen / Isolierung
  2. Zorn
  3. Verhandlung
  4. Depression
  5. Zustimmung

1. Nicht wahrhaben wollen / Isolierung

  • "Nicht-wahr-haben-wollen" ist das entscheidende Hindernis vor der Möglichkeit zur Therapie   
  • die Isolierung von den anderen, die ihn auf sein Problem ansprechen könnten sowie das Abwehren von Äußerungen, die sich auf sein Suchtverhalten beziehen, ist zu finden.

2. Zorn

  • Es wird gehadert mit dem Schicksal, das einen selbst hat suchtkrank werden lassen und nicht den bestimmten Bekannten, der doch „angeblich viel mehr trinkt“.
  • oft ist ein scheinbar unmotiviertes Aus-der-Haut-fahren zu beobachten, als Reaktion auf eine Störung.
  • Häufig besteht eine starke Aggression gegen den Partner, der einen gezwungen hat, die Diagnose "suchtkrank" zu akzeptieren - oder eine Wut auf die anderen, die noch Alkohol trinken dürfen.

3. Verhandlung

  • der Süchtige versucht für sich zu klären, ob er wirklich süchtig ist, ob er vielleicht doch kontrolliert trinken kann... d.h., ob er doch noch eine Chance hat, Alkohol normal zu konsumieren.
  • Versuche, die Krankheit durch Frischzellenkuren und ähnlichen Zauber zu heilen.

4. Depression

  • da ein Leben mit dem Alkohol nicht möglich ist, kann er auch erst zu diesem Zeitpunkt endgültig Abschied nehmen von seinem früheren Leben, seinen Gewohnheiten, Sicherheiten
  • er gibt die Hoffnung auf, vielleicht doch noch einmal zurückkehren zu können, und so wird der Verlust erst in dieser Situation als endgültig, unwiederbringlich erlebt.

5. Zustimmung

  • stimmt seinem neuen Leben zu und oft auch seiner Krankheit, indem er sie sinngebend in seinen Lebenslauf einfügt
  • der Schicksalsschlag, gegen den anfangs so heftige Auflehnung da war, bekommt eine neue Sinnqualität - er wird zur Chance, sich selber näher zukommen
  • In diesem Stadium hat der Alkohol jegliche Bedeutung verloren.

Eine Flipchartliste der Teilnehmer über ihre ersten Eindrücke oder Gedanken,  als sie in die Gruppe kamen, gaben schon mal erste Antworten zur Frage: „…was bekomme ich dafür?“.

  • Vorbild
  • Mir ist es ähnlich ergangen
  • Freundschaft
  • Einladung
  • Angst nehmen
  • Ich denk, ich mach mal mit
  • Ich erzähl dir von mir
  • Können wir helfen?
  • Willkommen
  • verstanden gefühlt
  • angenommen

Zur Frage, „Was machen Selbsthilfegruppen (in der Suchtkrankenhilfe)?“ gab es u. a. folgende Erläuterungen:

  • In Selbsthilfegruppen treffen sich Betroffene und Angehörige regelmäßig, um ihre Probleme zu besprechen und gemeinsam Freizeit zu gestalten. Meist sind es Gruppen von Alkohol- oder Medikamentenabhängigen, teilweise für Spielsucht und Essstörungen. Es gibt auch spezielle Gruppen für Angehörige.
  • Der Gruppenbesuch ist besonders wichtig, um nach der Therapie ein alkoholfreies Leben zu festigen.
  • Die Gruppe begleitet Menschen während der Beratung oder der ambulanten Therapie.
  • Selbsthilfegruppen helfen dabei, abzuklären, was jemand braucht, um seine Abhängigkeit zu überwinden.
  • Selbsthilfegruppen sind auch für die Prävention und Information ansprechbar (Einladung in Schulen, Betrieben).

Der Schluss vom ersten Teil des Referates widmete sich weiteren Aspekten der Gruppenarbeit. Unter der Überschrift „Grundwerte“ wurde das Selbstverständnis der Freundeskreise behandelt, das hier nicht weiter ausgeführt zu werden braucht. Weitere Punkte waren dann: 

  • Grundwerte
  • Gruppenordnung
  • Grundlagen der Arbeit
  • Voraussetzungen für die Arbeit

Der Sonntag begann mit Gedanken zum neuen Tag, vorgetragen von Roland Kögel, aus denen hier an dieser Stelle nur zwei Fragestellungen herausgegriffen werden sollen:

  • Wenn alles nur noch zum davonlaufen ist, wohin läufst du dann? 
  • Was macht ein Schiffbrüchiger, wenn er das Land erreicht hat?

Danach schloss sich der zweite Teil des Referates von Herrn Dunst an.

Einige Antworten auf die Frage: „Was macht Gruppen so effektiv?“ brachten ebenfalls weitere Antworten zur Ursprungsfrage“…was bekomme ich?“

  • Akzeptanz
  • „Wir-Gefühl“
  • Begegnung, Zuwendung, Beziehung, „Menschlichkeit“
  • Kompetenz
  • Entwicklung und Wachstumsmöglichkeiten
  • Erarbeitung von Lösungen
  • Authentizität und Aufrichtigkeit
  • Humor und Gelassenheit

Einen großen Raum des zweiten Teilreferats nahm das  Thema „Wahrnehmung“ ein. Nach viel Theorie kam es dann zur folgenden Zusammenfassung:

Wahrnehmung

  • ist eine Abfolge von physiologischen Schritten und kognitiven Prozessen
  • spiegelt nicht einfach die Natur der physikalischen Welt wider, sondern ist Ergebnis einer gefilterten Verarbeitung der physikalischen Welt durch unser Wahrnehmungssystem
  • Ist ein komplexer Prozess der Informationsgewinnung durch die Verarbeitung von Reizen, die allerdings subjektiv erfolgt

Ein wichtiger (und durchaus auch gefährlicher) Aspekt der Wahrnehmung ist die Täuschung. Anhand einiger Beispiele wurde die Frage beantwortet, wie es zu Täuschungen kommen kann. Eine vor allem für uns wichtige Erkenntnis ist die, dass auch Drogen oder Medikamente zu erheblichen Wahrnehmungstäuschungen führen können. Plakatives Stichwort hierbei: Halluzinationen. Als Zusammen(kurz)fassung kann hier aufgeführt werden: Wahrnehmungstäuschungen entstehen grundsätzlich unter drei verschiedenen Bedingungen:

  1. bei widersprüchlicher Reizinformation
  2. bei Überbelastung des Wahrnehmungssystems
  3. bei Unterbelastung des Wahrnehmungssystems

Die weiteren Themen behandelten dann das Selbstkonzept/die Selbstaufmerksamkeit, und die Emapthie. 

Selbstkonzept

Das Selbstkonzept ist das hauptsächlich auf Erinnerungen beruhende Wissen, wer ich bin. Es unterliegt in der Lebenszeit erheblichen Veränderungen. Kinder beginnen im Alter von etwa zwei Jahren mit der Entwicklung eines Selbstkonzeptes. Anfangs besteht es aus konkreten, beobachtbaren Eigenschaften wie Alter, Geschlecht, Haarfarbe usw. Im Laufe des Lebens kommen immer mehr Gedanken, Gefühle und abstrakte Konstrukte (Temperament, Nationalität, Religion usw.) dazu. Wir unterscheiden materielle Anteile (mein Körper, meine Familie, meine Besitztümer usw.), soziale Anteile (die verschiedenen sozialen Rollen) und spirituelle Anteile (Einstellungen, moralische Urteile usw.).

Informationsquellen für das Wissen über sich selbst findet der Mensch

  • in der Beobachtung des eigenen Verhaltens
  • in der Bewertung des eigenes Verhaltens
  • in Äußerungen von Mitmenschen
  • in der Deutung der Reaktionen von Mitmenschen
  • im Vergleich mit Mitmenschen

Selbstaufmerksamkeit

Die Aufmerksamkeit auf das eigene Selbst zu richten wird normalerweise vermieden, da der Vergleich des realen Selbst mit einem idealen Selbst unweigerlich zum unangenehmen Gefühl der kognitiven Uneinigkeit führt. Dennoch trägt die Selbstaufmerksamkeit zu der Empfindung einer konstanten Identität bei.

Empathie

Der Begriff bezeichnet zum einen die Fähigkeit, Gedanken, Emotionen, Absichten und Persönlichkeitsmerkmale eines anderen Menschen oder eines Tieres zu erkennen und zum anderen die eigene Reaktion auf die Gefühle Anderer wie zum Beispiel Mitleid, Trauer, Schmerz oder Hilfsimpuls.

Am Schluss des Referates ging der Referent der Frage nach: „Was hilft am besten, mit sich selbst im Reinen zu sein?“. Hierzu wurden 7 Säulen vorgestellt.

1. BIOS – DAS LEBENDIGE als erste Säule

  • Lebensachtung (Achtung vor dem Lebendigen, ob Mensch, Tier oder Pflanze)
  • Umweltschutz (die Sorge um den gemeinsamen Lebensraum)
  • Qualitätsstreben (das Wie höher schätzen als das Wieviel, nach Optimierung streben)

2. EROS – DIE ZUWENDUNG als zweite Säule

  • Achtsamkeit (Aufmerksamkeit und Fürsorglichkeit)
  • Offenheit (sich Neuem gegenüber aufschließen, Transparenz)
  • Toleranz (Verschiedenheit bejahen können, Anderes, Fremdes zulassen)

3. LOGOS – DIE VERNUNFT als dritte Säule

  • Erkenntnissuche (aktive Suche nach Wissens- und Erfahrungserweiterung)
  • Dialogbereitschaft (nicht nur Kampf oder Flucht kennen, sondern das Gespräch suchen)
  • Kritikfähigkeit (mit Verstand und Gefühl unterscheiden: richtig-falsch, gut-schlecht ...)
  • Besonnenheit (die Mitte finden zwischen Impulsivität und Gehemmtheit)

4. HEROS – MUT als vierte Säule

  • Courage (mit Beherztheit notwendige Veränderungen anstreben)
  • Engagement (sich mit allen verfügbaren Kräften für ein Anliegen einsetzen)
  • Mündigkeit (die Fähigkeit und das Recht zur Selbstbestimmung nützen)
  • Freiheitsliebe (die Freiheit von ... und die Freiheit zu ... verteidigen)

5. Das SELBST – als fünfte Säule

  • Identitätsbewusstsein (wissen, wer man ist, was man will, was man an sich schätzt ...)
  • Individualisierung (die persönliche Einmaligkeit und Einzigartigkeit respektieren)
  • Zielbewusstsein (das, was für uns wertvoll ist, anstreben)
  • Reflexion (die Stellungnahme zu eigenen Handlungen und Gedanken)
  • Wahrhaftigkeit (ehrlich, aufrecht, offen, echt anderen und auch sich selbst gegenüber)

6. KOSMOS – DAS GANZE als sechste Säule

  • Solidarität (sich verlässlich und gediegen mit anderen verbunden fühlen)
  • Politisches Bewusstsein (die Grundlage für das Zusammenleben in einer Gesellschaft/Gemeinschaft)
  • Verantwortung (auf die Lebensfragen anderen und sich gegenüber antworten)
  • Globalisierung (über die eigenen Grenzen hinaus denken)

7. HUMOR als siebte Säule

Witz und Humor (den Witz an einer Sache als Pointe schätzen, aber noch mehr die lächelnde Gelassenheit gegenüber den Ereignissen des Lebens)

Abschließend sei die Frage (des Berichterstatters) erlaubt: Gab es nun eine eindeutige Antwort auf die eingangs gestellte Frage („…was bekomme ich“). Sicher nicht nur eine, sondern viele aber sicher auch diese: Ich bekomme viele neue Erkenntnisse, wie eben auch die aus dem Referat. 

u.a. nach einen Protokoll von Roland Kögel