Inwieweit fördert Sucht die Entstehung von Familiengeheimnissen

Referat zum Angehörigen-Seminar des Landesverbandes 2014

Ich wurde gebeten, in das Thema „Familiengeheimnisse“ einzuführen. Ich freue mich, dass ich über dieses Thema sprechen darf, es betrifft jeden von uns, als Betroffener, Angehöriger, Eltern oder Kind aus einer Suchtfamilie. 

Es wird auffallen, dass ich immer wieder Bezug nehme auf die Kinder in suchtkranken Familien. In der gesamten Fachliteratur wird das Thema „Familiengeheimnisse“ im Zusammenhang mit den Kindern gesehen. Dazu gibt es derzeit aktuellste Untersuchungen und Fachartikel. Erst seit Neuestem werden „Kinder in Suchtfamilien“ in den Fokus der Fachleute als Teil des „Suchtsystems Familie“ genommen. Diese Erfahrung mache ich auch in meiner beruflichen Tätigkeit: Erst seit Kurzem werden Kinder als Betroffene mit einer eigenen Gefährdung gesehen und nicht nur die Eltern in ihrer Suchtproblematik.

1. Zahlen und Fakten

Nach Angaben der deutschen Hauptstelle für Suchtfragen konsumieren in Deutschland 10,4 Mio. Menschen Alkohol auf riskante Weise. 1,7 Mio. Menschen missbrauchen Alkohol, haben aber (noch) keine Sucht entwickelt. 1,7 Mio. Menschen sind alkoholkrank. Jedes dreihundertste Neugeborene wird mit ei-nem fetalen Alkoholsyndrom geboren.

Die Zahl der medikamentenabhängigen Menschen in Deutschland wird auf 1,3-1,4 Mio. geschätzt; davon konsumieren ca. 1,1 Mio. Benzodiazepine, d.h. Medikamente gegen Angst und Beruhigungsmittel (Tranquilizer).

Ca. 500.000 Menschen sind spielsüchtig. 0,3% konsumieren illegale Drogen.

Suchtgefährdete und suchtkranke Menschen haben Angehörige: Eltern, Geschwister, Partner, Kinder. Alleine 7 Mio. Angehörige sind von der Alkoholabhängigkeit eines Familienmitglieds betroffen. Die Forschung geht von einem Verhältnis 1:3 aus: Pro Alkoholerkrankung sind durchschnittlich drei Familienmitglieder als Angehörige betroffen.

Mehr als 30% der Kinder aus suchtkranken Familien werden zudem selbst suchtkrank, meist sehr früh.

Etwa 15% der Bevölkerung leiden unter einer psychischen Erkrankung (z.B. Angststörung, Depression). In unseren Gruppen machen wir die Erfahrung, dass z.B. Depression eine Erkrankung ist, die sowohl beim Alkoholerkrankten als auch bei den Angehörigen auftritt.

Auch Kinder psychisch erkrankter Eltern stehen unter erhöhtem Risiko, selbst eine psychische Störung zu entwickeln (ca. 60% entwickeln eine psychische Auffälligkeit). 

Ähnlich wie Kinder von suchtkranken Eltern sind auch die Kinder psychisch erkrankter Eltern mit krankheitsbedingten Verhaltensveränderungen ihrer Eltern konfrontiert, die sie oft nicht nachvollziehen können. Das kann dazu führen, dass die Kinder sich verantwortlich oder schuldig fühlen an dem für sie merkwürdigen Verhalten der Eltern.

Sowohl Kinder mit einem suchtkranken als auch mit einem psychisch kranken Elternteil erleben Situationen und Gefühle wie Desorientierung, Schuld, Scham, Doppelbotschaften, Isolierung und Redeverbot.

2. Geheimnisse

Bevor wir zum Thema „Geheimnisse in Suchtfamilien“ kommen, schauen wir uns das Geheimnis erst einmal genauer an.

Der Duden sagt: Geheimnis stammt von geheim und ist seit dem 15. Jahrhundert gebräuchlich. Es ist von dem Wort Heim abgeleitet und bedeutete zunächst „zum Haus gehörend, vertraut“. Mit der Zeit bekam es dann seine negative Bedeutung.

Dr. Victor Chu, dessen Buch „Lebenslügen und Familiengeheimnisse“ hinten zur Ansicht ausliegt, sagt: Lebenslügen sind wie ein Haus, das auf Sand gebaut ist. Man kann ein ganz kunstvolles, solides Haus bauen, aber wenn das Fundament nicht stimmt, dann kommt immer etwas ins Rutschen“.

Grundsätzlich unterscheiden wir zwischen „an- und unangenehmen Geheimnissen“. Angenehme Geheimnisse machen gute Gefühle wie Freude, positive Spannung, frohe Erwartung. Z.B. kennt fast jeder die heimliche Spannung und freudige Erwartung vor Weihnachten oder bevor man ein freudiges Ereignis allen mitteilt. Diese Heimlichkeit gibt das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Unangenehme Geheimnisse machen schlechte Gefühle wie Angst, Wut, Hilflosigkeit. Beispielsweise, wenn der Bruder oder die Schwester beim Klauen beobachtet wird. Diese Heimlichkeiten belasten und schließen andere aus.

In Familien mit Suchtproblemen finden sich überwiegend belastende, unangenehme Geheimnisse. Um mit der Belastung umzugehen, bildet die Familie unausgesprochene, manchmal auch ausgesprochene Regeln heraus.

3. Regeln 

3.1 Rede nicht

„Darüber spricht man nicht“. Wer kennt diesen Satz so oder so ähnlich?

Es ist für alle Beteiligten schwer, ein Suchtproblem in der Familie offen einzugestehen. Denn die Suchterkrankung. genau wie die psychische Erkrankung, gehört in unserer Gesellschaft zu den tabuisierten Erkrankungen, über die „man“ nicht spricht. Sucht wird als Schwäche, Versagen, Schande an-gesehen. Deshalb versuchen Familienmitglieder mit allen Mitteln, die Suchtprobleme zu verheimlichen und nach außen den Eindruck einer heilen Familie zu vermitteln.

Kinder lernen in dieser Situation sehr früh, den Schein zu wahren und zu schweigen. Die ganze Familie hat somit viele Geheimnisse zu  wahren. Die oberste Regel lautet dann: Niemand darf merken, was bei uns los ist.

3.2 Fühle nicht

Das Nächste, was wir bei Familien mit Suchterkrankung feststellen, ist, dass Gefühle nicht mehr natürlich ausgelebt werden.

Nicht zu fühlen vermeidet Schmerzen und bürdet den Familienmitgliedern (z.B. Eltern) nicht noch das Leid der Kinder auf. Dahinter steht bei den Kindern oft noch die Überzeugung, dass sie ihren Gefühlen nur bedingt trauen sollten. Durch das Leugnen der Gefühle wird der Zugang zum emotionalen Erleben verlernt, dadurch werden aber auch angenehme Gefühle nicht mehr wahrgenommen. Es sei denn, Kinder benutzen sie als Maske, um sich dahinter zu verstecken.

Für die Kinder heißt das, schnell erwachsen werden zu müssen und viel zu früh Verantwortung übernehmen zu müssen. Die unausgesprochene Forderung an sie lautet: Sei stark, gut, perfekt. Mach immer alles richtig! Mach uns stolz.

3.3 Traue nicht

Durch die Botschaft der Familie, dass alles normal sei, und der gegenteiligen Wahrnehmung der Kinder, lernen diese, weder sich noch anderen zu trauen. Suchtmittelabhängige lügen, um ihre Sucht zu vertuschen. Die Partner lügen, damit der/die Suchtkranke nicht den Arbeitsplatz und den guten Ruf verliert. Die Kinder lügen, um sich selbst zu schützen.

Wenn in einer Familie Lügen normal geworden sind, ist auf nichts und niemanden mehr Verlass. Die Kinder verlieren ihr Vertrauen in andere Menschen. Sie verinnerlichen: Ich bin der einzige, dem ich trauen kann.

Nun hat aber jeder Mensch Gefühle, auch der/die Betroffene, die Partner, die Kinder. In einer Atmosphäre, in der Gefühle zu haben verboten ist, müssen diese Gefühle versteckt werden, aus Scham oder aus Angst, sich bloßzustellen.

4. Scham

Scham ist zwar ein Grundgefühl, das jeder Mensch entwickelt, es ist aber nicht angeboren wie z.B. Angst oder Aggression, sondern erlernt. Tiere zeigen im Gegensatz dazu Wut bei einem Angriff oder Angst, was eine Flucht nach sich zieht. Sie zeigen aber auch Freude bzw. Zufriedenheit, aber keine Scham. Scham wurde im Laufe der menschlichen Evolution entwickelt, um ein soziales Zusammenleben auf engem Raum zu ermöglichen.

Die Menschen verschiedener Kulturen haben unterschiedliche „Tabus“, schämen sich für andere Dinge. 

Scham ist ein zentrales, latent immer vorhandenes Gefühl in Suchtfamilien. Hinter allen Handlungen, bei jedem Familienmitglied, spielt Scham eine bedeutende Rolle. Even Imber-Black schreibt in seinem Buch „Geheimnisse und Tabus in Familien“, dass Alkoholismus in der Herkunftsfamilie die zweithäufigste Ursache für Schamgefühle und Familiengeheimnisse ist. (An erster Stelle steht sexueller Missbrauch.)

Scham ist das Aschenputtel unter den Gefühlen. Sie wird nicht gezeigt, sie ist das Gefühl, entblößt, nackt, bloßgestellt zu sein, vor sich und der Welt. Scham verhindert, dass der Betroffene über sein Leid und dessen Ursache redet. Sie ist eines der unangenehmsten Gefühle, das man am liebsten verdrängen, nicht spüren würde. Es ist ein Gefühl, über das nicht gesprochen wird, das man niemanden anvertraut.

Ein Mitglied einer Suchtfamilie schämt sich für sich selbst, aber auch für andere Familienmitglieder. Dies führt direkt in das geschlossene System der Suchtfamilie, geprägt durch Geheimnisse und Leiden.

Wir haben bisher die Hintergründe beleuchtet, wie und wodurch Geheimnisse entstehen und wie sie sich in Suchtfamilien auswirken.

5. Lösungen

Nun ist die Frage, welche Möglichkeiten es gibt, aus diesem Teufelskreis aus Scham und Schweigen auszusteigen. In erster Linie geht es darum, das Schweigen zu brechen und die Scham zu überwinden.

Was ist hierzu nützlich?

  • Information: Alkoholismus ist eine Krankheit
  • Es gibt Hilfen für den Abhängigen und die Angehörigen
  • Redeverbot aufheben

Wir haben uns, den Abhängigen, den Partnern, den Kindern über lange Zeit ein Redeverbot erteilt. Als Einzelner da einfach auszubrechen ist schwer. Dr. Victor Chu, Autor von „Lebenslügen und Familiengeheimnissen“, war als Kind selbst betroffen und beschreibt seine damalige Situation so: „Ich fühlte mich sehr falsch, hatte das Gefühl, vielleicht verrückt zu sein und die anderen seien richtig. Ich wurde zum Sündenbock, zum Außenseiter in der Familie.“

Wie können wir verhindern, dass in unserer Familie so etwas geschieht? Es funktioniert nur, wenn wir uns die Erlaubnis geben, über die Situation und unsere Gefühle zu reden. Stellt sich die Frage, wer diese Erlaubnis erteilt. 

Als Erwachsene sind wir es selbst, die es uns erlauben, das Schweigen zu brechen. Wir entscheiden, wo und bei wem wir es tun, bei einem Arzt, einer Freundin, einer Beratungsstelle, einer Selbsthilfegruppe, alleine oder gemeinsam mit dem Partner. 

Bei den Kindern ist das anders. Die Kinder brauchen die ausdrückliche Erlaubnis der Eltern zum Reden. Und sie benötigen ggf. Unterstützung dabei, jemanden zu finden, dem sie sich anvertrauen können. Ohne diese Erlaubnis werden sie nicht reden, dazu sind sie viel zu loyal ihrer Familie gegenüber, und sie sind die Schwächsten im System. Sie können es sich nicht leisten, ein Risiko einzugehen.

Im besten Fall erleben Kinder ganz konkret, dass sich etwas geändert hat, dass die Eltern selbst miteinander über ihre Probleme und Gefühle reden. Auf jeden Fall brauchen Kinder geeignete und geschützte Räume, in denen sie sich öffnen können. Das kann eine Gruppe sein wie z.B. die „Kindergruppe Regenbogen“, aber auch eine Lehrerin oder ein Trainer im Sportverein, der vertrauenswürdig ist; eine Nachbarin oder ein Familienmitglied, ein Onkel, eine Tante, eine Therapeutin etc.

6. Schlussanmerkung

Nicht alle Familien mit einer Suchtproblematik entwickeln die geschilderte Dynamik. Es kann sein, dass die Familienmitglieder die „Regeln" nicht einhalten und eine Möglichkeit des Ausgleichs oder einen Schutzraum finden. Damit sind wir beim Thema „Resilienz“, d.h. Schutzfaktoren, die es einem Menschen ermöglichen, schwierige Lebensumstände seelisch unbeschadet zu überstehen. Dies an dieser Stelle zu thematisieren, würde allerdings den Rahmen sprengen; es wäre aber vielleicht eine Anregung für ein weiteres Seminar.

Barbara Kunz

(Barbara Kunz ist Heilpädagogin und Systematische Therapeutin (DGSF). Seit 2002 ist sie Mitglied im Freundeskreis Karlsruhe.)